AIDS in unserer Gesellschaft
Ablehnung aus Angst und Unwissen
Verbannung von Kindern aus Schulen und Kindergärten
"Ihr Sohn ist HIV-positiv", sagte die Krankenschwester am Telefon. Walter
Krüger, Ingenieur und Vater zweier Kinder, legte den Hörer auf und weinte. Er
dachte an die Blinddarmentzündung, die sein Sohn Michael vor einigen Jahren
hatte. Während der Operation war es zu einer Blutung gekommen, und der Junge
brauchte eine Transfusion. Eine Blutspende der Eltern lehnten die Ärzte ab.
Es bestehe keinerlei Grund zur Sorge, sagten sie damals - doch Michael erhielt
HIV-verseuchtes Blut.
Krüger und seine Frau ahnten nichts davon, denn in den darauffolgenden Jahren
ging es Michael gesundheitlich gut. Erst als er sechs Jahre alt war, diagnostizierte man bei ihm Aids.
Inzwischen ist Michael elf Jahre alt. Er schwärmt für Autorennen und Kinofilme
und läuft gern Rollschuh. Der Junge wiegt nur 16 Kilogramm und hat mehr
Schmerzen ertragen als alle seine Freunde. Er beneidet sie, wenn sie draußen
miteinander herumtollen. "Warum", fragt er sich, "behandeln sie mich wie einen
Aussätzigen, und warum haben ihre Eltern etwas dagegen, wenn ich mich an den
Spielen beteilige?"
Wie Michael stoßen HIV-infizierte Kinder in unserer Gesellschaft auf eine
Mauer der Ablehnung. Beim Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamts in Berlin
waren vor 3 Jahren rund 1200 HIV-Infektionen bei Kindern bis zu 14 Jahren
registriert. Initiativen betroffener Eltern schätzen jedoch, daß über 2000
Kinder infiziert sind, denn zahlreiche Familien versuchen, die Krankheit
geheimzuhalten. Wird sie bekannt, müssen die jungen Patienten mit sozialer
Diskriminierung rechnen.
Dabei sind die an der Immunschwäche erkrankten Kinder unschuldige Opfer. Sie
wurden infiziert weil sie Transfusionen mit verseuchten Blutkonserven
erhalten haben, ihre Väter sich bei Geschlechtskontakten angesteckt und das
Virus an die Mutter weitergegeben haben oder die Eltern drogensüchtig sind.
In Deutschland steigt der Anteil der Frauen unter den HIV-Positiven ständig,
mittlerweile sind es über 18 Prozent. Immer mehr Ungeborene werden bereits im
Mutterleib angesteckt. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Infizierte das Virus
auf ihr Kind überträgt, liegt bei rund 15 Prozent.
Aidskranke und HIV-infizierte Kinder müssen strapaziöse medizinische
Behandlungen über sich ergehen lassen und leiden oft unter großen Schmerzen.
Sie leben mit dem ständigen Gedanken an den Tod; trotzdem bringt ihnen unsere
Gesellschaft kaum Mitleid entgegen.
So erhielt Manuela Klein aus Berlin im vergangenen Jahr einen Anruf aus dem
Kindergarten ihrer Tochter. "Wir haben gehört, daß Yasmin mit dem Aidsvirus
infiziert sein soll. Falls Sie keine Bescheinigung über einen negativen Test
beibringen, kann sie ab morgen nicht mehr kommen, denn die anderen Eltern
drohen damit, ihre Kinder abzumelden", sagte die Erzieherin.
"Ich hoffe auf ihr Verständnis."
Kummer und Wut überkamen Manuela Klein. Seit mehreren Jahren weiß sie von der
Infektion ihrer Tochter und erlebt seitdem ständig Benachteiligungen. "Mein
Mann hat die Familie verlassen, weil er nicht mit einem schwerkranken Kind
zusammenleben will", berichtet sie. Er zahlt keinen Unterhalt und droht seiner
Frau, falls sie ihn verklage, werde er Yasmins Zustand beim Vermieter und im
gesamten Stadtteil bekanntmachen.
Davor fürchtet sich Manuela Klein, denn aidskranke Kinder dürfen häufig nicht
mehr im Schulbus fahren, werden aus Kindergärten und Schulen, der
Ballettstunde oder der Theatergruppe ausgeschlossen. Selbst Reitstunden hat
man ihnen schon verweigert. Manche finden Zettel auf ihrem Pult, auf denen
steht: "Hau ab, du Aidskrüppel." Es kommt sogar vor, daß Großeltern ihre Enkel
nur noch mit Gummihandschuhen begrüßen und die Türklinken abwischen, sobald
die Kinder sie berührt haben.
HIV-infizierten Kindern wird manchmal ein Schwerbehindertenausweis
vorenthalten; ein Sachbearbeiter sprach sogar von "menschlichem Abfall".
Selbst Mediziner weigern sich, HIV-infizierte Kinder zu behandeln.
Für die ohnehin stark belasteten Eltern bringt die Suche nach einer neuen
möglicherweise weiter entfernten Praxis zusätzliche Mühe und höhere Kosten mit
sich. Andere Ärzte fallen durch Taktlosigkeit auf. "Was regen Sie sich so auf,
die macht es doch sowieso nicht mehr lange" sagte zum Beispiel ein Arzt zu
Verena Meier im Beisein ihrer zehn Jahre alten, HIV-infizierten Tochter, die
er wegen einer Mittelohrentzündung behandelte.
Netzwerk für Hilfesuchende. Um sich gegen die unbarmherzige Isolierung zu
wehren und sich gegenseitig zu unterstützen, haben Eltern und Betreuer
aidskranker Kinder in vielen Städten Selbsthilfegruppen gegründet.
In Heidelberg, Mannheim, Düsseldorf, Berlin und Lehrte bei Hannover fanden
sich Betroffene zusammen. Anfangs waren es jeweils nur wenige Familien, die
Hilfe brauchten; heute betreuen manche Gruppen Hunderte von Kindern mit ihren
Angehörigen in ganz Deutschland.
Die Elternverbände bilden inzwischen ein bundesweites Netzwerk. Sie
beraten bei Prozessen gegen Pharmaunternehmen und erstreiten Entschädigungen,
wenn die HIV-Infektion durch kontaminierte Blutkonserven verursacht wurde.
Sie bieten Unterstützung bei Behördengängen, vermitteln Pflegeeltern oder
Babysitter und veranstalten Seminare über medizinische Behandlungsmethoden,
Ernährung und Sterbebegleitung. Auch Ausflüge oder Ferienreisen organisiert
man gemeinsam. Bedürftige Mitglieder erhalten finanzielle Hilfe. Zwar
übernehmen die Krankenkassen in den meisten Fällen die Kosten für die
Medikamente, die sich im Jahr auf über 100 000 Mark belaufen können. Doch
fallen hohe Ausgaben zum Beispiel für besondere Ernährung an. Oft muß auch
ein Elternteil den Beruf aufgeben, weil das Kind ständige Pflege braucht.
Vor allem aber helfen die Gruppen Eltern und Kindern, mit der
gesellschaftlichen Ablehnung besser fertig zu werden. "Obwohl bereits seit
sieben Jahren über Aids aufgeklärt wird, ist die Diskriminierung der
Betroffenen schlimmer denn je", sagt Karen Bödeker vom Förderverein
HIV-infizierter Kinder in Norddeutschland in Lehrte.
Eine Reihe von Betreuern empfiehlt den Eltern daher, vor Kindergärtnerinnen
und Lehrern die Wahrheit zu verbergen und eine seltene Blut- oder Erbkrankheit
vorzutäuschen, die plausibel macht, warum das Kind Medikamente nehmen muß, oft
müde ist oder große Blutergüsse bekommt, sobald es sich irgendwo stößt. Die
Berliner Kinderärztin Dr. Mechthild Vocks-Hauck vom Kuratorium für
Immunschwäche bei Kindern meint allerdings: "Das Verheimlichen wäre nicht
nötig, wenn die Öffentlichkeit endlich die medizinischen Fakten zur Kenntnis
nähme."
Berührungsängste abbauen. Es gibt weltweit keine Untersuchung, die gezeigt
hat, daß ein Kind ein anderes beim normalen sozialen Kontakt angesteckt hat.
"Zwar balgen sich Kinder, aber es muß schon viel Blut fließen, ehe es zu einer
Ansteckung kommt", sagt Dr. Vocks-Hauck. "Daher besteht kein Grund,
HIV-Infizierte aus Kindergärten und Schulen auszuschließen." Stärker als die
gesunden Spielkameraden sind die Immungeschwächten selbst gefährdet. Wenn
Krankheiten grassieren, müssen sie vorbeugend Medikamente schlucken oder
einige Tage zu Hause bleiben.
Es wird noch viel Aufklärung erforderlich sein, bis sich in unserer Gesellschaft ein Bewußtseinswandel einstellt. Den Mitgliedern der
Elterninitiativen schlägt häufig drastische Feindseligkeit entgegen, sie erhalten
Drohbriefe oder werden von anonymen Anrufern beschimpft. Karen Bödeker, die
aus ihrem Einsatz für die Organisation keinen Hehl macht und Familien vor
allem in juristischen Angelegenheiten unterstützt, fand eines Morgens an ihrem
Auto alle Reifen durchstochen, und Haßparolen waren auf die Windschutzscheibe
gekritzelt.
Das Berliner Aids-Forum wurde im August 1993 durch einen Brandanschlag
verwüstet. Die gesamte Büroeinrichtung, aber auch das Kinderzimmer und die
für die Kranken unentbehrlichen Rollstühle verkokelten. Der Schaden betrug
50000 Mark, viel Geld für eine Initiative, die ihre Arbeit überwiegend durch
private Spenden finanziert. Die geplanten Kindergruppen mit Heileurhythmie
und Musiktherapie mußten wochenlang verschoben werden. Doch die Streiter für
die Rechte der immungeschwächten Kinder geben nicht auf.
Die Kinder selbst merken sehr wohl, wenn die Erwachsenen vor ihnen Angst haben
oder sie anlügen. "Deshalb müssen wir ehrlich zu ihnen sein", sagt Raimund
Fürst, der die in Düsseldorf ansässige Elterninitiative HIV-betroffener Kinder
gegründet hat. Seinem Sohn Tobi, der heute neun Jahre alt ist, hat er erklärt:
"Manche Kinder haben kranke Augen, du hast krankes Blut." Tobi weiß, daß er
vielleicht bald sterben wird. Er malt Bilder, die seine Lage widerspiegeln,
und spricht unbefangen über die Krankheit und den Tod. "Die HIV-infizierten
Kinder brauchen unsere Unterstützung", sagt Fürst. "Sie zeigen uns, wie man
mit schweren Lebenssituationen umgeht, und wir dürfen sie nicht allein
lassen."