Amnesty International - Anwalt der Menschenrechte

Der Erfolg gründet sich auf die Macht des geschriebenen Worts. Täglich schicken Mitglieder aus über 150 Ländern Briefe, Telefaxe und Bittgesuche an Präsidenten, Botschafter und Gefängnisdirektoren und fordern die Freilassung gewaltloser politischer Gefangener. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 gingen drei Millionen Briefe und Telegramme an die chinesischen Behörden.


Noch immer werden die Menschenrechte in zahlreichen Staaten verletzt. 1993 zählte Amnesty 151 Länder, die Anlaß zur Sorge boten. Die Beschwerden umfassen Massenmorde ebenso wie grausame Einzelfälle. So wurden im März 1988 5000 Kurden im irakischen Halabjah von Saddam Husseins Luftwaffe mit Giftgas umgebracht, was eine weltweite Protestaktion auslöste. Um den ukrainischen Schriftsteller Viktor Rafalsky kümmerte sich zehn Jahre lang eine Amnesty-Gruppe aus Bayreuth. Er war wegen seiner satirischen Aufsätze und Gedichte fast drei Jahrzehnte in psychiatrischen Kliniken inhaftiert und kam 1987 frei.
Viele Regierungen verschonen nicht einmal Kinder. 1993 wurden in 35 Ländern, darunter Guatemala, Honduras und Kolumbien, Kinder entführt, mißhandelt oder hingerichtet. Dadurch versucht man auch, ihre Angehörigen einzuschüchtern und zu Geständnissen zu zwingen. Amnesty berichtet, daß die von Januar bis Juli 1992 in den brasilianischen Bundesstaaten Rio de Janeiro und Sao Paulo 667 Kinder und Jugendliche ermordet wurden.
Die Amnesty-Gruppe in Berlin-Köpenick konnte im darauffolgenden Jahr zwei armenische Schwestern retten. Die sieben und acht Jahre alten Mädchen waren im April 1992 in der Region Bergkarabach von aserbaidschanischen Soldaten als Geisel genommen worden. Um ihnen zu helfen, organisierte die Gruppe ein Benefizkonzert. Dazu druckten sie die Fotos der Kinder auf die rund 800 Eintrittskarten, die dann als Postkarten an die Regierung von Aserbaidschan geschickt wurden. Zwei Monate später ließ man beide Kinder frei.
Amnesty International wurde von dem englischen Anwalt Peter Benensons gegründet. 1960 las er in einem Zeitungsbericht über zwei portugiesische Studenten, die während der Salazar-Diktatur auf die Freiheit getrunken hatten und dafür zu sieben Jahren Haft verurteilt worden waren. Benenson war empört und beschloß, etwas dagegen zu tun. Er kam auf die Idee, Regierungen mit Protestbriefen unter Druck zu setzen und so für die Menschen einzutreten, die wegen ihrer politischen Gesinnung inhaftiert waren.
Am 28. Mai 1961 veröffentlichte die Londoner Zeitung The Observer Benensons Aufruf zum Straferlaß in einem Artikel über acht "vergessene" Gefangene. In kurzer Zeit bekam er rund 1000 Briefe aus aller Welt.
Die drei Journalisten Carola Stern, Gerd Ruge und Felix Rexhausen riefen im selben Jahr die erste deutsche Amnesty-Gruppe in Köln ins Leben. Sie betreuten Joseph Brodsky aus Leningrad, der 1961 wegen seiner politischen Gesinnung nach Archangelsk in Nordrußland verbannt wurde und 1987 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
1970 schlossen sich in Wien österreichische Mitglieder zusammen. Seit 1989 sind auch Gruppen in den neün Bundesländern, in Polen und Ungarn sowie in Moskau entstanden. "Das macht uns Mut", sagt Volkmar Deile, der Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
Die Zentrale von Amnesty befindet sich in London. Dort sammeln und prüfen 290 Angestellte aus 50 Ländern Fakten über Menschenrechtsverletzungen. Das Sekretariat entscheidet auch, welche der weltweit mehr als 4300 ehrenamtlichen örtlichen Gruppen die jeweiligen Schützlinge betreut. 1993 hat Amnesty über 11000 Menschen unterstützt und mehr als 920 Freilassungen erreicht. Für ihr Wirken erhielt die Organisation bereits 1977 den Friedensnobelpreis, und 1978 wurde sie mit dem Menschenrechtspreis der UN ausgezeichnet.
40 Mitarbeiter in Bonn und 21 in Österreich leiten die Information aus Großbritannien an ihre Ortsgruppen und die öffentlichkeit weiter. In beiden Ländern hat Amnesty heute zusammen über 30000 Mitglieder und Förderer in knapp 700 Gruppen. Sie alle kämpfen nicht nur bei den Regierungen für die Einhaltung der Menschenrechte und die Gefangenen; sie versuchen auch, den Inhaftierten selbst durch den persönlichen Kontakt Mut zu machen.
In Detmold und Blomberg zum Beispiel gehören der Gruppe Berufstätige, Hausfraün, Lehrer und Schüler an. Sie opfern viele Stunden ihrer Freizeit, um Briefe zu schreiben oder publikumswirksame Aktionen durchzuführen. Bereits Ende der 70er Jahre "adoptierten" sie den damals 24jährigen Abdelkader Amasri aus Marokko. Er hatte auf Flugblättern mehr demokratische Rechte in seinem Land gefordert. 1974 war er deshalb verhaftet und zwei Jahre später zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Die Mitglieder der Gruppe Detmold-Blomberg schrieben Briefe und schickten Päckchen ins Gefängnis, doch häufig erhielt der Student sie nicht. "Das brachte uns auf die Idee, seinen Namen in einen Pullover einzustricken, so daß nur er ihn anziehen konnte", erzählt die 46jährige Erzieherin Brigitte Züchner. "Dieses Paket kam bei ihm an, und von da an klappte auch der Briefwechsel besser".
"Zu Weihnachten 1987 sandten ihm dann über 30 Personen Postkarten", sagt Brigittes Mann Helmut, ein 47jähriger Lehrer. "Da Amasri Deutsch lernen wollte, schickten wir ihm ein Lehrbuch." All das geschah unter Privatnamen, man gab sich nie als Amnesty-Gruppe zu erkennen.
Ständig warben die Mitglieder durch Informationsstände und in Gottesdiensten um weitere Unterstützung für ihren Fall. Nach 15 Jahren Haft kam Amasri endlich frei. Er schrieb sofort an seine Freunde in Deutschland und sandte marokkanisches Gebäck als Symbol des Dankes. "Unsere Freude war groß", sagt Züchner. "Wir und die Bonner Amnesty-Zentrale haben ihn weiterhin mit Geldspenden unterstützt, damit er ein Pädagogikstudium beginnen und sich ein neüs Leben aufbaün konnte."
Amasri weiß längst, daß er das alles einer Amnesty-Gruppe verdankt. "Eure Briefe hielten meinen Lebenswillen wach", schrieb er, "weil Ihr an mich gedacht und mir geholfen habt."
1993 sammelte die deutsche Amnesty-Sektion elf Millionen Mark an Spenden und Mitgliedsbeiträgen; in Österreich waren es 2,5 Millionen Schilling. Die Gruppen sowie viele Einzelpersonen in beiden Ländern beteiligten sich Jahr für Jahr mit weit über 100000 Briefen und fast 20000 Telefaxen, Telexen und Telegrammen an den internationalen Kampagnen. Als Ratan Gazmere aus dem Königreich Bhutan im Himalaja 1989 verhaftet und gefoltert wurde, weil er die Einhaltung der Menschenrechte gefordert hatte, löste Amnesty eine weltweite Briefaktion aus. Allein aus Deutschland und Österreich wurden mehr als 5000 Schreiben abgesandt, und Ende 1991 kam Ratan frei.
"Wir können die Gefängnistüren nicht gewaltsam öffnen", erläutert Volkmar Deile die Strategie von Amnesty. "Aber mit den ständigen Appellen setzen wir Zeichen, damit die Regierungen die Menschenrechte einhalten." 1993 sandte Amnesty zudem über 70 Delegationen in 59 Länder, die Gespräche mit Regierungsvertretern führten, Rechtsverletzungen prüften und Gerichtsverfahren beobachteten. "Auch reisende Rechtsanwälte, Journalisten, Entwicklungshelfer und Familienangehörige berichten uns, was sie gesehen haben", sagt Gunnar Köhne, der Pressesprecher von Amnesty in Deutschland. "Manchmal gelingt es sogar einem Häftling, einen Brief an uns aus dem Gefängnis zu schmuggeln."
Doch nicht nur ferne Länder werden angeklagt. Amnesty International hat auch Deutschland und Österreich wegen der Mißhandlung von Asylbewerbern und anderen Ausländern durch Polizeibeamte kritisiert. Solche Proteste werden stets von Mitgliedern anderer Länder bearbeitet, um keine Konflikte zu schaffen. Denn die Ländersektionen pflegen wichtige Kontakte auf der nationalpolitischen Ebene. "Mit Vertretern des Auswärtigen Amtes finden regelmäßige Treffen statt", sagt Köhne. Hunderte von Parlamentariern in Deutschland und Österreich unterstützen die Organisation aktiv.
Jugendliche sind speziell in rund 110 deutschen und Österreichischen Gruppen aktiv. In Österreich erscheint auch regelmäßig das Magazin a.i. scream. Es berichtet 1993 über den 13jährigen Christen Salamat Masih in Pakistan. Er war verhaftet und zum Tode verurteilt worden, weil er auf die Maür einer Moschee gotteslästerliche Parolen geschrieben haben sollte, obwohl er Analphabet ist. österreichische Jugendliche sandten Hunderte von Briefen an die pakistanische Regierung und an Salamat. Im März 1994 wurde er freigelassen.
Das Interesse der breiten Öffentlichkeit kann man nur durch besondere Aktionen wecken, sagte sich die Amnesty-Gruppe in Rostock, die Daniel Azpillaga Lombard betreute. Der 37jährige Kubaner hatte im September 1991 an einer friedlichen Demonstration in Havanna teilgenommen und die Freilassung von politischen Gefangenen gefordert. Dafür wurde er zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Im Dezember 1992 ließen die Rostocker gemeinsam mit Amnesty-Mitgliedern in Schwerin, Ludwigslust, Neubrandenburg, Greifswald und Wolgast 1000 Luftballons aufsteigen. An jedem Ballon hingen drei Postkarten, die der Finder an Fidel Castro, die kubanische Botschaft und an Lombard schicken sollte. Ein halbes Jahr später stellte die Gruppe in der Rostocker Fußgängerzone ein Faxgerät auf. Passanten konnten damit direkt bei der kubanischen Botschaft in Bonn die Freilassung des Gefangenen fordern. Die Aktionen waren ein voller Erfolg. Im Juli 1993 wurde Lombard aus der Haft entlassen.
Der einzelne Gefangene ist für Amnesty International der stärkste Antrieb, und die Mitglieder geben die Hoffnung nie auf. "Mit großer Ausdaür stehen wir den Opfern bei", sagt Doris Jäger vom Amnesty-Büro in Wien. "Selbst wenn Jahre bis zur Freilassung vergehen, kämpfen wir mit Geduld."
Dankbarkeit ist der Lohn. Der äthiopische Lehrer und Journalist Wolde Yohannes Hunde war über zehn Jahre ohne Anklage inhaftiert und wurde schwer gefoltert. Nach seiner Entlassung besuchte er 1992 die Augsburger Gruppe, die sich sieben Jahre lang für ihn eingesetzt hatte. Er ist seinen deutschen Freunden tief verbunden. Sie haben ihm geholfen, als er in Not war, und er weiß, was Amnesty für jeden Gefangenen bedeutet: die Hoffnung auf Leben und Freiheit.

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